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Museumsmanagement Niederösterreich, Foto: Katrin Vogg

ELSEWHERE

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Sechs Personen in einem Museumsraum. Vier sitzen an einem Tisch mit Laptops und Kopfhörern, zwei stehen dahinter. An den Wänden hängen Bilder, es gibt Vitrinen mit Ausstellungsstücken.

Die Darstellung jüdischer Geschichte in österreichischen Schulbüchern konzentriert sich häufig auf Verfolgung und Shoah. Die israelisch-österreichische Schulbuchstudie von 2023 kritisierte diese Einseitigkeit und forderte neue, multiperspektivische Vermittlungsformen.

Ausgehend von diesen Befunden entwickelte Florian Bauer im Rahmen seiner Masterarbeit „Digitales Serious Gaming für eine gestärkte Erinnerungskultur“ an der Fachhochschule St. Pölten das digitale Spiel „elsewhere“. Das Projekt thematisiert jüdisches Leben in Groß-Enzersdorf vor 1938 und verbindet dabei Archivarbeit, Game Design und didaktische Zielsetzungen. Ein weiterer Zugang ergab sich durch die Beobachtung, dass digitale Spiele längst Teil des Alltags vieler Jugendlicher sind. Die Studie „Gaming in Austria 2023“ zeigt: Über zwei Drittel der Österreicher*innen spielen regelmäßig. 

Genau hier setzt die Masterarbeit an. Sie entstand im Masterstudiengang Interactive Technologies (Schwerpunkt Mobile) unter Betreuung von Georg Vogt, der als Forscher, Kurator und Filmemacher an der FH St. Pölten und der Universität Wien tätig ist. Seine Arbeit konzentriert sich auf Bewegtbild, Archivstrukturen und narrative Strategien – ein Kontext, aus dem auch die beiden Forschungsprojekte stammen, auf denen das Spiel basiert.

 

Das lebendige Archiv

Die Projekte GEJIDE – Groß-Enzersdorfs jüdische Gemeinde im digitalen Erinnerungsraum – und RegioBioGraph, einem Forschungsansatz zur digitalen Geschichtsvermittlung an der Schnittstelle von filmischer Biographie und Datenvisualisierung, basierten auf einer Vielzahl historischer Quellen und Artefakte; darunter etwa Meldezettel, Fotografien, Oral History-Interviews und lokalhistorische Dokumente –, um jüdisches Leben in Groß-Enzersdorf umfassend zu dokumentieren.

Eine zentrale Grundlage war das fünfbändige Lebenswerk von Ida Olga Höfler, die bis zu ihrem Tod im September 2024 akribisch zur Geschichte jüdischer Familien im Bezirk Gänserndorf forschte. Erfasst wurden dabei unter anderem Geburtsdaten, Berufe, Wohnorte und religiöse Zugehörigkeit jüdischer Personen zwischen 1848 und 1945.

 

Darauf aufbauend entwickelte RegioBioGraph multimediale Erzählformate. Ziel war ein „lebendiges Archiv“, das aus Texten, Bildern, Videos und Audioquellen dynamische Biografien formt. Der Prototyp versuchte, diese digitalen Archivbestände filmisch zu strukturieren und wurde im Rahmen der Neueröffnung des Stadtmuseums Groß-Enzersdorf im Juni 2024 präsentiert.

Das neugestaltete Museum zeigt unter dem Titel „Verstehen, wer wir sind“ die Geschichte der gesamten Großgemeinde – von den mittelalterlichen Anfängen bis zur Gegenwart. Die Kuratorin Karin Neckamm zeigte sich besonders offen für neue Vermittlungsformate, die vor allem jüngere Zielgruppen wie Schüler*innen ansprechen – insbesondere Konzepte, bei denen Geschichte über digitale Spiele erfahrbar gemacht wird.

 

Erinnern mit Wiener Schmäh

Ein solches Format stellt das Spiel „elsewhere“ dar, das auf der Lebensgeschichte von Else Moskowitz (geb. Weiss) basiert. Sie wurde 1934 in Groß-Enzersdorf geboren, ihre Familie lebte nahe der Synagoge, der Vater betrieb eine Landwirtschaft. 1938 musste die Familie über England in die USA fliehen. Der Kontakt zu ihr entstand im Rahmen der beiden Forschungsprojekte dank engagierter Vorarbeit von Studierenden der Universität Wien.

Else Moskowitz lebt heute in Washington, ist über 90 Jahre alt und arbeitet immer noch als Übersetzerin. In den Gesprächen zeigte sie sich offen, zugewandt, humorvoll und technisch versiert: Sie nutzte Videokonferenzen souverän, beantwortete E-Mails und teilte Dokumente.

 

In mehreren Interviews zwischen 2022 und 2024 berichtete sie nicht nur über Flucht, sondern vor allem über ihren Alltag, ihre Kindheit, die Sprache – und das Wienerische, das sie bis heute liebevoll pflegt. So wurde gemeinsam ihre Familiengeschichte entdeckt und rekonstruiert.

Im Zuge der Aufarbeitung entstanden aus über 21 Stunden an Interviewmaterial thematische Cluster wie Sprache, Kindheit, Kulturleben, Exil oder Beruf. Über 100 historische Artefakte wurden aus der Topothek Groß-Enzersdorf – einem offen zugänglichen, partizipativen Online-Archiv für lokalhistorische Materialien – von Fotos über Briefe bis zu Zeitungsausschnitten. 32 dieser Objekte wurden schließlich für das Spiel ausgewählt.

 

 

Ein Spiel aus dem Aktenkoffer

Aus den erwähnten Materialien entwickelte sich das Spielkonzept von „elsewhere“: eine 3D-Spielwelt, in der Spieler*innen durch eine virtuelle Wohnung wandern. Jeder der vier Räume steht für einen Themenbereich: Wohnzimmer (Kultur), Bibliothek (Sprache), Arbeitszimmer (Beruf) und Gästezimmer (Reisen und Kindheit). In diesen Räumen lassen sich Artefakte entdecken, untersuchen und einsammeln; zu jedem Objekt stehen zudem kurze Kontextinformationen zur Verfügung, die gelesen oder vorgelesen werden können.

Im zentralen Raum befinden sich vier Bilderwände, die einzelnen Familienmitgliedern gewidmet sind. Auf jedem Rahmen steht eine Frage, etwa: „Was erinnert an den Beruf des Vaters?“ oder „Welches Objekt erzählt von Elses Kindheit?“ Die Aufgabe ist es, die passenden Artefakte zu identifizieren und auf den entsprechenden Rahmen zu platzieren. Wird eine Wand richtig gelöst, erscheint eine Ziffer. Zusammen ergeben sie den vierstelligen Code für den Aktenkoffer im Raumzentrum. Am Ende sind alle Bilderrahmen mit Erinnerungen an die Familie von Else gefüllt – die Spieler*innen helfen so dabei, ihre Geschichte wieder sichtbar zu machen.

Der Aktenkoffer – inspiriert vom echten Koffer der Zeitzeugin – lässt sich nach erfolgreicher Zuordnung öffnen. Er enthält ein Videogruß von Else Moskowitz. In diesem bedankt sie sich für das Finden und Ordnen ihrer Erinnerungen und liest Alt-Wiener Gedichte aus einem Notizbuch vor.

Der Titel „elsewhere“ entstand im Dialog mit ihr: Einerseits verweist er auf die Schriftstellerin Penelope Lively, die in ihrem Roman "A House Unlocked" (Penguin Random House, 2010) den Begriff „elsewhere“ für Herkunftsländer von Geflüchteten verwendet. Andererseits beschreibt Else selbst die deutsche Sprache als ihr „elsewhere“ – einen Ort innerer Zugehörigkeit, jenseits geografischer Grenzen. Das Spiel wurde mit der Game Engine Unity umgesetzt und für Windows und macOS entwickelt.

 

Erste Erfahrungen im Museum

Wie kommt ein solches Spiel bei der Zielgruppe an?

Diese Frage wurde am 8. November 2024 in der Praxis erprobt: Im Rahmen einer Unterrichtseinheit Geschichte & Politische Bildung spielten zwölf Schüler*innen aus drei vierten Klassen der Mittelschule Groß-Enzersdorf erstmals „elsewhere“. Zwei Spielstationen standen dafür im Stadtmuseum bereit.

Die achte Schulstufe wurde bewusst gewählt, da Themen wie Erinnerungskultur und Shoah explizit im neuen Lehrplan verankert sind. Die Evaluierung kombinierte direkte Beobachtungen, Fragebögen und ein Interview. Die Lehrkräfte, darunter Direktor Michael Paternostro, begleiteten den Test in beobachtender Rolle. Paternostro zeigte sich offen für neue Vermittlungsformen und unterstützte das Projekt aktiv.

 

Die Beobachtungen zeigten vielfältige Spielstrategien: Einige arbeiteten systematisch, andere versuchten sich intuitiv voranzutasten. Viele Texte wurden zwar überflogen, doch gab es zahlreiche Aha-Momente, wenn Verbindungen zwischen Artefakt und Frage erkannt wurden. Besonders motivierend wirkte die Aufgabe, den vierstelligen Code rechtzeitig zu knacken – was viele der Zweierteams mit großer Zielstrebigkeit verfolgten.

Der soziale Austausch zwischen den Spielenden war ein wesentlicher Faktor für das Verständnis der Spielmechanik. Die Verbindung von lokalhistorischem Inhalt, Spielprinzip und realer Biografie wurde in den Rückmeldungen als bereichernd erlebt. Verbesserungsvorschläge betrafen vor allem die Verständlichkeit von Anleitungen und die Textmenge.

 

Ein Spiel als Erinnerungsort

Die Ergebnisse zeigen: „elsewhere“ ersetzt keine klassische Geschichtsvermittlung, aber es kann sie auf zeitgemäße Weise ergänzen. Der spielbare Prototyp verbindet kuratierte Archivmaterialien, erzählte Geschichte und digitale Werkzeuge zu einem Lernangebot, das junge Menschen erreicht – nicht durch Belehrung, sondern durch aktives Entdecken.

Das Spiel ist auf der Plattform itch.io kostenlos verfügbar und kann mit einfacher Anleitung auf Windows und macOS gespielt werden. Für das Stadtmuseum Groß-Enzersdorf war die Integration des Spiels ein spannender Schritt in Richtung partizipativer Vermittlung. Es zeigt neue Wege auf, wie lokale Geschichte vermittelt und gemeinsam erinnert werden kann.

 

Text: Florian Bauer

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