DE
Museumsmanagement Niederösterreich, Foto: Katrin Vogg

1 Tafel für 100 Jahre und ganz viel Emotion

Alle Artikel

"Niederösterreich in den letzten 100 Jahren? Was war denn da?" - Antworten darauf sind oft knappe Schlagworte wie Zwischenkriegszeit, Ständestaat, Zweiter Weltkrieg, Besatzungszeit und wirtschaftlicher Aufschwung. Alles richtig, nur: was genau ereignete sich wann und wo? Und vor allem, was bedeutete dies für die betroffenen Personen vor Ort?

Diesen Fragen nach den lokalen Geschehnissen, den großen und kleinen, den bekannten und den etwas versteckten, ging das Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich nach und erstellte eine beidseitige Ausstellungstafel zu 100 Ereignissen und Orten, die dem interessierten Publikum im Rahmen der Bezirksfeste von kundigen Kulturvermittler*innen nähergebracht wurden.

Von Geschichte zu Geschichten

Es entwickelten sich unglaublich spannende Gespräche, die einmal mehr zeigten, wie wichtig und faszinierend das manchmal so sperrig wirkende Thema „Zeitgeschichte“ ist. Gerade im Austausch mit Zeitzeug*innen werden die vergangenen Jahrzehnte lebendig: Erinnerungen, oft begleitet von tief empfundenen Emotionen, sorgen dafür, dass aus trockenen historischen Fakten, Daten und Jahreszahlen ganz persönliche, individuelle Erfahrungen werden.

Viele der (jüngeren) Kultur*vermittlerinnen berichteten, dass sie aus den Gesprächen mit den (älteren) Gästen ganz neue Einblicke in die lokale Zeitgeschichte und damit eine erweiterte Sicht auf das Heute gewinnen konnten.

Auch ganz junge Besucher*innen fanden sich vor der Tafel ein und waren hervorragendes Beispiel für das Sprichwort „vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen“: eine Frage an die Erwachsenen ergab die nächste, Geschichte um Geschichte wurde erzählt, weitergegeben, um Erinnerungen angereichert.

Ganz besonders erfreulich war, dass die Ausstellungstafel zumeist von lokalen Kulturvermittler*innen betreut wurde, die es wunderbar verstanden, einen Bezug zur jeweiligen Feststadt und ihrer Region herzustellen. 

Was bedeutet Heimat für mich?

Überraschend und hochspannend war die Begegnung mit dem 100 Jahr-Jubiläum für viele Besucher*innen, die nicht „schon immer“ in Niederösterreich lebten. So erzählte Frau Hasenhütl, seit Ferienbeginn pensionierte Gymnasiallehrerin und staatlich geprüfte Fremdenführerin aus Bruck an der Leitha, vom Gespräch mit einem gebürtigen Finnen, der seit ein paar Jahren in unserem Bundesland lebt. Für ihn war es gänzlich neu und regelrecht überraschend, dass Niederösterreich in seiner heutigen Form so verhältnismäßig jung ist. Mit großem Interesse ließ er sich durch die Geschichten des vergangenen Jahrhunderts leiten und war dankbar, so viel über seine Wahlheimat zu erfahren. Andere Gäste, die zufällig dazustießen, waren nicht minder überrascht, was sie alles an Neuem erfuhren und an Bekanntem gemeinsam auffrischen konnten.

Eine berührende  Anekdote schildert Sebastian Buchner, Kulturvermittler im Museum St. Peter an der Sperr: Ein serbisches Paar, Mitte Sechzig, lebt schon seit Jahrzehnten in Wiener Neustadt, ohne der Familie, denn die Kinder sind in Serbien geblieben oder dorthin zurückgekehrt. Doch für das Ehepaar ist die Stadt in Niederösterreich zu ihrer Heimat geworden: „In Serbien sind wir Touristen. Unsere alten Freunde sind entweder weggezogen oder gestorben“, erzählt die Frau und fährt fort: „Hier fühle ich mich viel mehr zuhause als dort. Hier brauche ich gar keine Freunde, denn ich habe das Gefühl, die ganze Stadt ist meine Freundin.“

Noch eine weitere schöne Begegnung schildert Sebastian Buchner: Ein Niederösterreicher ist zuerst etwas überrascht von meiner Frage, was denn Niederösterreich für ihn ausmache. Es ist keine Frage, die man sich oft stellt, wenn man sein ganzes Leben lang von nichts anderem umgeben ist. Aber er denkt darüber nach: Wie würde man einem Fremden Niederösterreich erklären? Was macht es besonders? “Die Vielfalt,” sagt er schließlich. “Die Möglichkeiten, die man hat. In der Natur. In der Lebensweise. Man ist schnell in einer großen Stadt und schnell wieder am Land. Man kann in den Wald gehen oder auf die Berge. Und wenn man will, ist man auch schnell bei den Nachbarn in Ungarn oder in Bratislava.”

Kulturvermittlung ist kein Frontalunterricht

Die Betreuung der Ausstellungstafel war für die Kulturvermittler*innen vor Ort eine besondere Herausforderung, schließlich ging es hierbei nicht nur um „nette, einfache“ Themen, die sich locker-flockig erzählen ließen und mit fast 100%iger Garantie für Begeisterung sorgten. Nein, hier war die Herausforderung deutlich größer, zumal es sich nicht um Führungen im klassischen Sinne handelte, sondern um Gespräche, Interaktionen, überraschende Emotionen. – Ja, sogar zu Ergänzungen fühlte man sich angeregt, wie das Foto zeigt.

Persönliche Erfahrungen und lokales Wissen standen im Vordergrund und verwandelten diese Art der Geschichtsvermittlung in einen nachhaltigen, gewinnbringenden Austausch mit allen und für alle Beteiligten! 

Text: Barbara Linke